Veranstaltung: | Tagung BAG Frieden & Internationales | 26. - 28. August 2022 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 6 Antragsberatungen |
Antragsteller*in: | Ursula Hertel-Lenz |
Status: | Abgelehnt |
Abstimmungsergebnis: | Ja: 7, Nein: 17, Enthaltungen: 3 |
Eingereicht: | 31.07.2022, 17:41 |
A1: FRIEDEN SCHAFFEN: KOOPERATIVE SICHERHEIT IN EUROPA UND AUF GLOBALER EBENE
Antragstext
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verursacht
millionenfaches Leid, Massaker, Kriegsverbrechen, Tod und Verwüstung. Mit jedem
Tag, den die Angriffe fortdauern, werden Menschen körperlich verletzt oder
traumatisiert, viele sterben. Das Risiko einer Ausweitung des Krieges auf andere
Staaten oder einer weiteren Eskalation wächst. Die weltweite Hungerkrise nimmt
immer größere Ausmaße an.
Vorbereitungen für Verhandlungen beginnen
Die Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen hat dazu beigetragen, dass
sie den Angriffen Russlands standhalten konnte, allerdings wurden weitere
Gebiete – vor allem im Süden, aber auch im Osten - durch russische Truppen
besetzt. Es ist zur Zeit nicht absehbar, inwieweit die Ukraine auch bei
anhaltender Unterstützung durch Waffenlieferungen diese und alle anderen
russischen Truppen aus dem Land drängen kann.
Während in Deutschland über die Waffenlieferungen viel informiert und diskutiert
wurde und wird, ist die Frage, wann und wie dieser Krieg beendet werden könnte,
als sachlich behandeltes Thema in der Öffentlichkeit kaum präsent.
Vorbereitungen für Verhandlungen fehlen offenbar. Hier ist ein Umdenken
notwendig. Denn perspektivisch ist die Ko-Existenz der europäischen Staaten mit
der Russischen Föderation alternativlos.
Sprech-Fähigkeit wieder herstellen – Eskalation verhindern
Nach einem halben Jahr Krieg und nach den verschiedenen Gipfeltreffen von EU, G-
7, NATO und G-20 sollten nun, neben den Waffenlieferungen und Sanktionen,
Vorbereitungen für einen international abgestimmten und multilateral getragenen
Verhandlungsprozess beginnen, auch auf oberster politischer Ebene. In dieser
zugespitzten Kriegssituation braucht es vor allem eine Sprech-Fähigkeit zwischen
allen Beteiligten (d.h. die Möglichkeit, wieder miteinander in substanzielle
Verhandlungen treten zu können), also auch gegenüber der gegenwärtigen
russischen Führung. Diese Sprech-Fähigkeit sollte auch für bestehende
kommunikative Formate wie die verschiedenen G-7- und G-20-Treffen gelten.
Die Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung ihrer territorialen
Integrität ist zentral; zugleich gilt es, die Gefahr einer atomaren Katastrophe
zu verhindern. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Russland - eine atomare
Supermacht auf Augenhöhe mit den USA - taktische Atomwaffen einsetzt, um einen
erzwungenen Rückzug oder eine drohende Niederlage abzuwenden. Auch das Risiko
eines Atomkriegs aus Versehenist real, z.B. auf Grund eines Fehlalarms. Die
Zerstörungswirkungen eines Einsatzes von taktischen Atomwaffen – vergleichbar
der Hiroshima-Bombe - können ein existenzielles Ausmaß annehmen, gerade auch für
die Ukraine.
Die Hoffnung auf einen vollständigen militärischen Sieg der Ukraine durch
umfassende westliche Unterstützung ist verfehlt. Auch wenn ein derartiges
Vorgehen gelingen würde, könnte Russland seine Armee entlang der ukrainischen
Grenzen stehen lassen und weiter das ukrainische Territorium mit Raketen und
Bomben beschießen. So würde die Ukraine dauerhaft destabilisiert. Um dies zu
vermeiden, müsste im Gegenzug die Ukraine russisches Territorium angreifen. Das
wäre mit einer gefährlichen Ausweitung des Krieges verbunden.
Zeitfenster für Verhandlungen erkennen und nutzen können
Die Frage ist nicht, ob Verhandlungen mit der russischen Führung angestrebt
werden sollten. Diese Frage muss differenzierter gestellt werden: worüber soll
wann mit ihr geredet werden, wie sollen diese Gespräche geführt werden und wer
soll sie in welcher Rolle initiieren und moderieren.
Es gibt bereits diplomatische Lösungsvorschläge, die nur wenig Beachtung fanden,
u.a. den Zehn-Punkte-Plan, den die ukrainische Delegation im Rahmen der
ukrainisch-russischen Gespräche vom März 2022 in Istanbul vorlegte, oder das
Ergebnis der Internationalen Arbeitsgruppe, die auf Einladung des Vatikans im
Juni 2022 Lösungen für einen „gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine“
vorschlug.
Sollte es in den nächsten Wochen – auch durch die Waffenlieferungen und
Sanktionen – zu einer echten militärischen Pattsituation kommen, könnte sich ein
Zeitfenster für Verhandlungen öffnen. Wann dies geschehen würde, ist kaum
vorhersagbar. Daher sollte jetzt bereits vorbereitet werden, was dann schnell
einsatzbereit sein muss: eine beidseitig akzeptierte, multilateral mitgetragene
und flexibel steuerbare Struktur für moderierte Verhandlungen.
Dilemmasituationen durch geeignete Verhandlungsführung überwinden
Die ukrainische Souveränität steht politisch zu Recht im Zentrum, aber die
Verhandlungen sollten auch darüber hinaus gehende Themen einbeziehen. Einiges
spricht dafür, dass mit Russland nur im Paket mit übergeordneten Fragen sinnvoll
verhandelt werden kann. So könnte die Macht des Stärkeren als einzige Logik für
die Konfliktaustragung begrenzt und zurückgedrängt werden. Die internationale
Gemeinschaft auf UN-Ebene könnte den Rahmen für die Aushandlung offener
internationaler Fragen gestalten undstrukturieren.
Verhandlungen mit der russischen Führung – und schon der Weg dahin – können zu
Dilemmasituationen führen. Zum Beenden des Krieges braucht es früher oder später
eine Verhandlungslösung. Bei anhaltender militärischer Stärke Russlands darf
diese jedoch nicht auf Kosten der Ukraine gehen. Militärische Machtverhältnisse
müssen das Ergebnis von Verhandlungen nicht vollständig und linear bestimmen.
Militärische Machtasymmetrien zwischen Konfliktparteien können ausgleichbar
sein, wenn neben den militärischen Logiken in relevantem Ausmaß auch andere
Interessen beider Seiten einbezogen werden. Entscheidend ist, dass mögliche
Verhandlungen nicht zu einem russischen Friedensdiktat führen.
Eine international abgestimmte, multilateral getragene Vermittlungsinitiative
mit realistischer Zielsetzung könnte die Aufnahme von Verhandlungen ermöglichen.
Im ersten Schritt ginge es um einen Waffenstillstand, im zweiten Schritt um
einen Friedensvertrag und die Ko-Existenz beider Staaten; der Rückzug Russlands
wäre klare Bedingung und die Verfahren wären eindeutig: die Ukraine entscheidet
über ukrainische Hoheitsthemen, weitere internationale Themen wären politisch
verhandelbar.
Ein weiteres Dilemma besteht darin, dass offizielle Verhandlungen mit dem
Kriegsverbrecher Putin seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, seine
Machtansprüche und Kriegsverbrechen implizit legitimieren könnten, was in jedem
Fall vermieden werden muss. Jedoch weder das Ausblenden von Kriegsverbrechen
noch eine Straffreiheit Putins sind zwangsläufige Folgen von Waffenstillstands-
oder Friedensverhandlungen. Die o.g. Befürchtungen sind aber berechtigt und es
muss ihnen in Verhandlungsprozessen bewusst entgegengewirkt werden.
OSZE stärken
Sicherheit lässt sich nicht auf militärische Stärke reduzieren. Es gilt
weiterhin, langfristig eine neue nachhaltige europäische Friedens- und
Sicherheitsarchitektur aufzubauen. Die Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bietet trotz des russischen Angriffskrieges –
und trotz allen Reformbedarfs - eine wichtige Basisfür eine mögliche Kooperation
auch über politische Lagergrenzen hinweg. Das erfordert vor allem diplomatische
Fähigkeiten und vertrauensbildende Maßnahmen. Die OSZE wurde bisher vom
Auswärtigen Amt mit ca. 25 Mio. € jährlich gefördert. Sie müsste jedoch von den
Mitgliedstaaten mit deutlich mehr Mitteln ausgestattet werden als gegenwärtig,
damit ihre Potenziale ausgeschöpft und weiterentwickelt werden können. Im
Koalitionsvertrag sind neue Initiativen für die Stärkung von Rüstungskontrolle
und Abrüstung angekündigt. Dafür hat die OSZE wichtige Instrumente geschaffen.
Diese gilt es langfristig zu stärken.
Die Debatte über Sicherheit muss sich von der Fixierung auf die militärische
Dimension lösen und auch „menschliche Sicherheit“ in den Blick nehmen. Dazu
gehört der Schutz der Menschen vor Kriegen, Krisen, Klimakatastrophen und
Krankheiten und auch der Zugang zu Ressourcen und Lebensperspektiven, also etwa
Ernährungssicherheit und -souveränität. Ausreichende Mittel für humanitäre Hilfe
und Entwicklungszusammenarbeit müssen bereitgestellt werden, um die Folgen des
Krieges gegen die Ukraine und der Corona-Pandemie auf globaler Ebene zu
bewältigen.
Krisen und Kriegen weltweit vorbeugen
Der Koalitionsvertrag bezieht sich auf die Leitlinien „Krisen verhindern,
Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ von 2017 und kündigt zivile Planziele an.
Gerade jetzt ist es wichtig, die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen
Akteuren auszubauen. Deutsche Politik sollte mithelfen, Brücken zu bauen,
zwischen Menschen aus der Ukraine, Russland und Belarus, im westlichen Balkan
und Südkaukasus, im Nahen Osten und in der Sahelregion. Deutschland hat dafür
eine Reihe wichtiger Instrumente geschaffen. Es wäre fatal, wenn die
beschlossenen militärischen Investitionen deren Ausbau behinderten.
Es gilt, Klimakrise, Pandemien und Artensterben aufzuhalten, gerechte
Lebensperspektiven zu schaffen und Krisen und Kriegen weltweit vorzubeugen. Und
für den sozialverträglichen ökologischen Umbau unserer Gesellschaft müssen
ebenfalls ausreichende Mittel vorgehalten werden. Auch das ist relevant für
Sicherheit, denn der Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften hängt auch davon
ab, ob sie sich so schnell wie möglich von fossilen Energieträgern unabhängig
machen können. Als Wertegemeinschaft wird sich die EU illiberalen und
rechtspopulistischen Bestrebungen mit allen Mitteln entgegenstellen und die
europäischen Demokratien gegen innere und äußere Feinde verteidigen müssen.
Längst geht es auch um die enormen Folgekrisen des Russland-Ukraine-Krieges,
insbesondere den drohenden Welthunger infolge ausbleibender Getreideexporte.
Diesbezüglich ist das neue NATO-Konzept der forcierten Aufrüstung kein Konzept,
mit dem die Zukunft nachhaltig gestaltet werden könnte. In erster Linie
profitiert der militärisch-industrielle Komplex, der schon jetzt angesichts der
globalen Auftragsexplosion maximale Überprofite einfährt.
Neuen Blockbildungen entgegen wirken - Die Klimakrise gemeinsam lösen
Eine neuerliche Blockkonfrontation wie zu Zeiten des Kalten Krieges sollte
unbedingt verhindert werden. Damals dauerte es fast 25 Jahre, bis nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs die Phase der Entspannung einsetzte. Angesichts der
drängenden globalen Probleme kann sich die Welt ein derartiges verlorenes
Vierteljahrhundert nicht leisten. Nach schon jetzt 50 untätig verstrichenen
Jahren seit dem epochalen Bericht des Club of Rome von 1972 und 30 Jahre nach
der Klimakonferenz von Rio de Janeiro 1992 steht die Welt an einem ökologischen
Kipppunkt. Dürren und Waldbrände, Gletscherabgänge, das Schmelzen des polaren
Eises wie das Auftauen des Permafrostbodens demonstrieren: Die Klimakrise, die
zunehmend zu einer Klimakatastrophe wird, hat mit ihren vielen Toten und
Geflüchteten längst Auswirkungen in den Dimensionen eines Krieges. Und das sind
nur die Folgen der CO2-Belastung der Vergangenheit, die bereits jetzt
irreversibel sind und die sich in den nächsten Jahren weiter verstärken werden.
All das zeigt: Die Bekämpfung der Klimakatastrophe ist und bleibt die
eigentliche Jahrhundertherausforderung – und jeder Krieg trägt massiv zur
ökologischen Zerstörung bei. Auch deshalb muss der Krieg gegen die Ukraine so
schnell wie irgend möglich beendet werden.
Außerdem muss die atomare Abrüstung wieder auf die Agenda gesetzt werden; denn
Putins Eroberungskrieg wie das neue NATO-Konzept drängen das Thema in den
Hintergrund. Die NATO sollte den Verzicht auf einen nuklearen Erstschlag
erklären, um das Risiko einer nuklearen Eskalation zu verringern. Nach dem Ende
des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter nuklearfähiger Kurz- und
Mittelstreckenwaffen und des „Open-Skies“-Abkommens über militärische
Beobachtungsflüge zwischen NATO-Ländern und Russland ist ein neuer Ansatz zu
Abrüstungsverhandlungen dringend geboten, auch angesichts der zunehmenden
Proliferation. Das Abkommen mit Iran droht zu scheitern. Auch in dieser Hinsicht
wäre eine neue Blockbildung in einer multipolar verfeindeten Welt
verhängnisvoll.
Die Rolle der Vereinten Nationen zur Überwindung der globalen Konflikte stärken
Die mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sich zeigende Machtverschiebung
vom traditionellen Westen und von Russland weg zugunsten der Schwellenländer und
des globalen Südens könnte die Chancen für eine diplomatische Lösung verstärken.
Denn der Druck der G-20-Mitglieder aus dem globalen Süden für ein Ende der
Kämpfe wächst. Afrikanische Länder - wie zum Beispiel Südafrika - erheben
angesichts großer ökonomischer Abhängigkeiten, inflationären Drucks und
drohender Hungerkatastrophen die Forderung, zu einem Ende der Kämpfe zu kommen.
Die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor forderte anlässlich des G-7-
Gipfels in Elmau im Interview mit dem ZDF vom 27. Juni 2022: „Die Welt hat eine
Verantwortung, für Frieden zu sorgen“. Und Brasiliens Präsidentschaftskandidat
Lula da Silva kritisierte, die Sanktionen würden Millionen Menschen töten.
Im kommenden Jahrzehnt wird die Konkurrenz zwischen den Großmächten um
Einflusssphären vermutlich mit unverminderter Härte fortgesetzt. Es ist
notwendig, der weiteren Zuspitzung von Konflikten durch neue Initiativen zu
Abkommen auf UN-Ebene zu begegnen, die auch China einschließen. Bestehende
Konflikte müssen begrenzt werden, solange sie nicht beigelegt werden können. Und
ohne eine Einbeziehung der Schwellenländer wird es keine Lösung der globalen
Probleme geben, insbesondere nicht der völlig ungelösten Klimakrise. Aber
letztlich bedarf es eines echten Multilateralismus und einer zentralen Rolle der
Vereinten Nationen. Denn um die großen Menschheitsprobleme anzupacken, braucht
die Welt wirtschaftliche und politische Kooperation.
Kommentare
Ursula Hertel-Lenz:
Hier einige Artikel, aus denen ich für meinen Antrag Aspekte übernommen bzw. Anregungen erhalten habe:
Der Putin-Widerspruch der Deutschen und wie wir jetzt mit Russland reden sollten - FOCUS online
Stärkung der Armee auf Kosten ziviler Instrumente? | Brot für die Welt (brot-fuer-die-welt.de)
Die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur nicht aufgeben | bpb.de
Waffenstillstand_und_Frieden_Ukrainekonflikt.pdf (ippnw.de)
„Wenn wir ein Ende des Kriegs wollen, müssen wir mit den Feinden verhandeln.“ Die Erfahrung von Nelson Mandela. Wo sind unsere Initiativen für Verhandlungen?[1] | Prof. Dr. Hajo Funke (wordpress.com)
Osteuropa-Experte zum Ukrainekrieg: „Sanktionen können Armee stärken“ - taz.de
Wie Deutschland wirksam die Ukraine unterstützen kann, ohne Eskalation zu riskieren – Außen- und Sicherheitspolitik | IPG Journal (ipg-journal.de)
Neue Weltordnung: Rückkehr des Großmächtekonzerts? – Außen- und Sicherheitspolitik | IPG Journal (ipg-journal.de)
Putins Erfolg: Europas Natoisierung und die Verfeindung der Welt | Blätter für deutsche und internationale Politik (blaetter.de)
Martina Fischer: