Veranstaltung: | Tagung BAG Frieden & Internationales | 24. Februar 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 6 Anträge und Diskussion |
Antragsteller*in: | Sonja Schiffers, Holger Haugk, Andreas Meinicke, Mattia Nelles, Sava Stomporowski |
Status: | Angenommen |
Abstimmungsergebnis: | Ja: 12, Nein: 1, Enthaltungen: 2 |
Antragshistorie: | Version 2 |
A1NEU: Für eine parteiübergreifende Aufarbeitung der deutschen Russland-Politik jetzt!
Antragstext
Wie konnte es zu einer der größten deutschen außenpolitischen Fehleinschätzungen
– der deutschen Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte – kommen, die
vollumfänglich erst seit dem 24. Februar 2022, mit dem Beginn des russischen
Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine, realisiert wurde?
Die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie ihre politischen
Entscheidungsträger*innen standen immer an der Seite der
Menschenrechtsverteidiger*innen und Demokrat*innen in Russland und galten zu
Recht als die härtesten Kritiker*innen des Kreml-Regimes im deutschen
Parteienspektrum. Dennoch gab es auch unter uns Grünen Haltungen, die die
Bedrohung durch Russland - darunter militärisch, energiepolitisch und mit Blick
auf den Wettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien – nicht ernst genug
nahmen.
Die Mitglieder der Fraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag
werden aufgerufen, sich fraktionsübergreifend für eine unabhängige Enquete-
Kommission aus Fachleuten einzusetzen, um die deutsche Russlandpolitik seit
Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins im Jahr 1999 historisch und
systematisch aufzuarbeiten. Im Kern geht es darum, Faktoren und Strukturen zu
identifizieren, die zur gescheiterten deutschen Russlandpolitik beigetragen
haben, um ähnliche strategische Fehler im Umgang mit autoritären Staaten, wie
etwa der Volksrepublik China, in Zukunft zu vermeiden. Daher geht es u.a.um
folgende Fragen:
1) Wie konnte es zur sicherheitspolitischen Fehleinschätzung kommen, dass
Russland unter Wladimir Putin keine direkte militärische Bedrohung für
Deutschland und Europa darstellen würde, insbesondere vor dem Hintergrund der
völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014?
2) Warum kam es nicht zu angemessenen Reaktionen auf Russlands Aggressionen, die
sich in Form von Cyberattacken, Spionage, Mordanschlägen und
Destabilisierungsversuchen gegenüber Deutschland und Europa zeigten?
3) Wie konnte es zu den energie- und wirtschaftspolitischen Abhängigkeiten,
insbesondere durch russische Rohstoffimporte (Gas, Kohle und Öl) kommen, ohne
dass die Gefahren für Deutschland ausreichend berücksichtigt und sogar
strategische Infrastruktur wie Gasspeicher an Russland verkauft wurden? Warum
wurden in diesem Zusammenhang die Vorteile des wirtschaftlichen Austausches mit
Russland lange überschätzt („Wandel durch Handel bzw. Annäherung“)?
4) Warum wurden die Warnungen unser mittel- bzw. osteuropäischen Nachbarn als
eigentliche Nachbarn Russlands durch die Mehrheit der politischen
Entscheidungsträger*innen nicht erst genommen und wieso hat die zunehmende
Autokratisierung in Russland, gekennzeichnet durch Unterdrückung und Verfolgung
der demokratischen Opposition und Zivilgesellschaft sowie damit einhergehende
Einschränkung der Menschenrechte nicht zu einem Umdenken in der der deutschen
Russlandpolitik geführt?
5) Wieso verfingen und verfangen noch immer viele russische
Desinformationskampagnen in bestimmten Teilen der deutschen Gesellschaft und
warum gelang es der russischen Regierung, ungestört pro-russische Netzwerke und
gefährliche Abhängigkeiten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands
aufzubauen?
6) Welche Rolle hat die deutsche Wirtschaft in der Russlandpolitik gespielt und
inwiefern haben möglicherweise deutsche Unternehmen dazu beigetragen,
Deutschland in gefährliche Abhängigkeiten zu treiben?
7) Warum hat die Politik auf Russlands wachsende schädliche Einflüsse im
Globalen Süden keine strategischen Antworten gefunden?
Diese und weitere Aspekte sollten systematisch aufgearbeitet werden, um
katastrophale Fehler perspektivisch zu vermeiden und damit weiteren Schaden von
Deutschland und Europa abzuwenden. Dabei sollte die Enquete-Kommission aktiv von
allen relevanten Entscheidungsträger*innen in ihrer Arbeit unterstützt werden
und notwendige Dokumente aus den beteiligten Ministerien zur Verfügung gestellt
bekommen. Die gewonnenen Erkenntnissen müssen transparent behandelt und der
Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
Begründung
Hinweise:
Antragstellende: Sonja Schiffers, Holger Haugk, Andreas Meinicke, Mattia Nelles
Der Antrag basiert auf einem fast identischen Antrag der SPD Berlin https://parteitag.spd.berlin/app/uploads/pdf/II_2023//Antrag_58II2023_Fuer_eine_-parteiuebergreifende_Auf-2.pdf. Dieser floss in den Leitantrag zur Außenpolitik ein, der auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2023 beschlossen wurde https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/spd-parteitag-russlandpolitik-100.html bzw. https://parteitag.spd.de/fileadmin/parteitag/Dokumente/Antraege/2023_SPD_oBPT_An-tragsbuch.pdf.
Die AG Osteuropa der BAG Frieden und Internationales hat den Antrag der SPD in ihrer letzten Sitzung diskutiert und sich im Konsens für einen vergleichbaren Antrag an die BAG ausgesprochen.
Begründung:
In den letzten beiden Jahrzehnten hat die deutsche Russlandpolitik nahezu parteiübergreifend und trotz zunehmender Autokratisierung Russlands sowie wiederholter russischer Aggressionen gegenüber seinen Nachbarn in Europa auf einen kooperativen Ansatz, vor allem in der Energie- und Wirtschaftspolitik gesetzt. Dieser Ansatz lässt sich nicht anders als einen gravierenden Realitätsverlust der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bezeichnen, wobei er oft zu Lasten unserer mittel- und osteuropäischen Partner ging. Die sechs Prinzipien („Russland zuerst“; „Wandel durch Handel bzw. Annäherung“; „Interdependenz und Verpflechtung als Garantie für Frieden“; „Sicherheit in Europa ist nur mit, nicht gegen Russland möglich“; „Wirtschaft vor Geo- und Sicherheitspolitik“ und „Historische Verantwortung verbietet Russlandkritik“) waren Teile der deutschen außenpolitischen DNA und bis etwa 1990 bzw. in den frühen 2000er Jahren auch durchaus berechtigt und begründbar. Die zunehmenden Autokratisierungstendenzen Russlands unter Wladimir Putin sowie seine brutalen Kriege, darunter der zweite Tschetschenienkrieg und der russisch-georgische Krieg 2008, führten jedoch nicht zu einem Umdenken in der deutschen Russlandpolitik, sondern in die durch die SPD vorangetriebene “Modernisierungspartnerschaft”, basierend auf der falschen Annahme, dass mit Medwedjew ein Reformer an die Macht gekommen sei.
Die verfehlte Russlandpolitik gipfelte im deutsch-russischen Baubeschluss für Nord Stream 2 nach der Annexion der Krim durch Russland mit dem Beginn des Krieges im Donbass im Jahr 2014. Obgleich das Vertrauen in die deutsch-russischen Beziehungen spätestens seit diesem Zeitpunkt massiv erschüttert wurde und Putin Deutschland und die EU als Gegner definierte, hat die damalige Regierung unter Angela Merkel die energiepolitische Abhängigkeit von Russland weiter erhöht. Durch die zurückhaltenden Reaktionen auf ihre Provokation wurde die russische Führung zu weiteren Aggressionen ermutigt.
Bisher haben zwar zahlreiche Politikerinnen und Politiker öffentlich erklärt, sich in ihren Grundannahmen bzgl. der russischen Ziele getäuscht zu haben und die Politik der vergangenen Jahre als Fehler bezeichnet. Dies ist zu begrüßen, aber nicht ausreichend, da die Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik öffentlich, transparent und systematisch erfolgen sollte. Hierfür wäre der Deutsche Bundestag, begleitet von einer Enquete-Kommission, der richtige Ort und Rahmen. Dabei geht es nicht um eine Art „Tribunal“ für einzelne Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger der letzten Jahrzehnte, sondern um eine umfassende, systematische Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik, um derartige politische Fehler im Umgang mit autoritären Staaten zukünftig zu vermeiden. Dies kann die Grundlage für eine realistische und zeitgemäße Russlandpolitik sein und gleichzeitig die Basis für das Aufstellen von neuen Leitlinien für den Umgang mit Russland bzw. anderen autoritären Staaten bilden.
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