Veranstaltung: | Tagung BAG Frieden & Internationales I 24. - 25. Mai 2025 |
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Tagesordnungspunkt: | TOP 2 Deutsche und Europäische Rüstungsstrategie 2025+ mit Sven Giegold, stellv. BuVo |
Antragsteller*in: | Peter Heilrath |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 19.05.2025, 19:59 |
AP 1: Arbeitspapier zur Diskussion: Grüne Rüstungsstrategie in der Zeitenwende
Antragstext
I. These: Die veränderte Sicherheitslage erfordert neben der Neubestimmung
grüner Sicherheitspolitik auch eine klare Rüstungsstrategie.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die europäische Friedensordnung
erschüttert und Deutschland sowie seine Bündnispartner vor neue Realitäten
gestellt. Die Nationale Sicherheitsstrategie 2023 bezeichnet Russland als größte
Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum. Dies erfordert
eine robuste Verteidigungsfähigkeit, was auch die Grünen anerkennen: Deutschland
muss in der Lage sein, sich und seine Partner zu verteidigen.
Für Bündnis 90/Die Grünen, mit ihrer pazifistischen Tradition, bedeutet dies
einen Spagat. Es gilt, die Notwendigkeit militärischer Stärke anzuerkennen, ohne
Kernwerte wie Deeskalation, diplomatische Konfliktlösung und Abrüstung
aufzugeben. Menschenrechte, Völkerrecht und Verhältnismäßigkeit müssen
Leitlinien bleiben. Deutschlands Verantwortung in NATO und EU ist gewachsen. Die
Grünen unterstützen eine stärkere EU als Sicherheitsakteurin. Eine grüne
Rüstungsstrategie muss definieren, wie Deutschland dieser Verantwortung gerecht
wird, durch Beiträge zur kollektiven Verteidigung und zur Stärkung europäischer
strategischer Autonomie.
Dabei spielen Aspekte der notwendigen technologischen Souveränität Europas (und
Deutschlands) in sicherheitsrelevanten Schlüsseltechnologien (z.B. KI, Cyber,
Quantentechnologie, Weltraum) und die Notwendigkeit strategischer Investitionen
in Forschung und Entwicklung unter ethischen Leitplanken genauso eine
entscheidende Rolle, wie auch die Stärkung von Cyberabwehrfähigkeiten und die
gesellschaftliche Resilienz gegen hybride Kriegsführung.
Die "Zeitenwende" ist ein interner Katalysator für die Modernisierung grüner
sicherheitspolitischer Identität hin zu einer "verantworteten Sicherheit". Die
wertebasierte Außenpolitik muss konkretisiert werden: nicht nur wofür, sondern
auch wie gerüstet wird (z.B. Ablehnung gänzlich autonomer letaler
Waffensysteme).
II. These: Eine resiliente europäische Sicherheitsarchitektur bedarf einer
gestärkten, kooperativen und nachhaltig finanzierten Verteidigungsdimension.
Sicherheit in Europa erfordert stärkere europäische Zusammenarbeit. Bündnis
90/Die Grünen befürworten eine vertiefte europäische Integration, auch in der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Initiativen wie die Gemeinsame
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), PESCO, der Europäische
Verteidigungsfonds (EVF/EDF) und die Europäische Verteidigungsindustriestrategie
(EDIS) samt Europäischem Verteidigungsindustrieprogramm (EDIP) sind
entscheidend, um Fähigkeiten zu bündeln und Doppelstrukturen zu vermeiden. Die
EDIS-Ziele (z.B. 40% gemeinsame Beschaffung bis 2030) sollten unterstützt, aber
an Nachhaltigkeits- und Ethikkriterien geknüpft werden.
Die Finanzierung der "Zeitenwende" (Sondervermögen Bundeswehr, Erhöhung des
Verteidigungshaushalts) erfordert nachhaltige Modelle. Die Grünen haben bei
Verhandlungen zum Finanzpaket März 2025 erfolgreich den Sicherheitsbegriff zB zu
den Nachrichtendiensten erweitern können. Eine Reform der Schuldenbremse, wie
von den Grünen vorgeschlagen, könnte Investitionen auch in zivile Sicherheit und
Transformation ermöglichen. Transparenz bei Rüstungsausgaben ist zentral.
Die Debatte um "Greenwashing von Waffen" und ESG-Kriterien erfordert klare
ethische und ökologische Standards im Verteidigungssektor. Völkerrechtlich
geächtete Waffen müssen ausgeschlossen bleiben. Europäische Zusammenarbeit darf
nicht zur Absenkung von Standards führen, sondern muss diese stärken und auch
KMU und Startups fördern. Innovative Finanzierungsmodelle wie europäische
Anleihen für Verteidigung oder eine Übergewinnsteuer (These V) sind zu prüfen.
III. These: Das nationale Beschaffungswesen muss grundlegend reformiert werden,
um Effizienz, Transparenz und eine bedarfsgerechte Ausstattung der Bundeswehr
sicherzustellen.
Ein effizientes Beschaffungswesen ist entscheidend für eine einsatzbereite
Bundeswehr. Das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der
Bundeswehr (BAAINBw) steht jedoch seit Jahren wegen Ineffizienz und langwieriger
Prozesse in der Kritik. Studien attestieren bisherigen Reformversuchen ein
weitgehendes Scheitern, wobei das Sondervermögen Bundeswehr offenbar notwendige
Strukturreformen eher hemmt. Beispiele wie Probleme bei digitalen Funkgeräten,
Verzögerungen bei Großprojekten (Puma, NH90) und Mängelberichte des
Bundesrechnungshofs (z.B. bezüglich der Korruptionsprävention) belegen dies.
Eine grüne Rüstungsstrategie muss konkrete Reformvorschläge enthalten:
Entbürokratisierung und Beschleunigung von Prozessen bei gleichzeitiger Wahrung
von Transparenz und parlamentarischer Kontrolle. Eine stärkere Orientierung an
marktverfügbaren Produkten ("Commercial/Military off-the-shelf") statt komplexer
Neuentwicklungen ("Goldrandlösungen") sollte unterstützt werden, wo sinnvoll.
Die parlamentarische Kontrolle (25-Mio-Euro-Vorlagen) muss durch frühzeitigere
und umfassendere Information des Bundestages gestärkt werden.
Die Bedarfsermittlung muss sich an realen Fähigkeitsanforderungen orientieren,
nicht primär an industriepolitischen Interessen. Lebenszykluskosten von
Waffensystemen (oft 60-80% der Gesamtkosten) müssen transparent und vollständig
berücksichtigt werden.
Die Verflechtung von Rüstungsindustrie, Bürokratie und Politik bedeutet auch
eine laufende Bedrohung der Strukturen und Entscheidungen durch Korruption und
erfordert deswegen Maßnahmen zur Aufbrechung problematischer
Interessenverflechtungen, z.B. durch Stärkung des Bundesrechnungshofs oder
strengere Karenzzeitregelungen.
Beim Kauf von "off-the-shelf"-Produkten, oft aus den USA (z.B. F-35), muss
abgewogen werden zwischen schneller Fähigkeitslückenschließung und langfristiger
Stärkung der europäischen oder nationalen Industrie und Technologiebasis.
IV. These: Eine wertegeleitete Rüstungspolitik erfordert verbindliche ethische
Regeln für die Rüstungsindustrie und eine strikte, transparente Exportkontrolle.
Für Bündnis 90/Die Grünen ist Rüstungsproduktion und -export untrennbar mit
ethischen Grundsätzen verbunden. Die Partei fordert seit langem ein Verbot von
Waffenlieferungen an Diktaturen und menschenrechtsverachtende Regime. Trotz
restriktiver Rhetorik erreichen deutsche Rüstungsexporte Rekordhöhen, auch an
problematische Drittstaaten.
Ein Ethik-Kodex für die Rüstungsindustrie mit überprüfbaren Verpflichtungen zu
Menschenrechtsstandards und Exportkriterien ist nötig. Diese könnten bei
Auftragsvergabe und Forschungsförderung verankert werden. Unternehmen, die
dagegen verstoßen, sollten von Aufträgen ausgeschlossen werden. Die Grünen
sollten sich für strenge Nachhaltigkeitsstandards im Verteidigungssektor
einsetzen, wobei völkerrechtlich geächtete Waffen kategorisch ausgeschlossen
bleiben.
Ein verbindliches Rüstungsexportkontrollgesetz ist eine Kernforderung. Die
Eckpunkte des BMWK wurden nicht mehr zur Kabinettsbefassung gebracht. Ein grünes
Gesetz muss klare Kriterien (Menschenrechte, Völkerrecht, regionale Stabilität)
festlegen. Auf EU-Ebene ist eine Harmonisierung der Exportkontrollen auf
höchstem Niveau nötig, um ein Umgehen strenger nationaler Regeln zu verhindern
und nicht dem Argument des "German Free" nachzugeben. Die "Politischen
Grundsätze" und EU-Kriterien müssen verschärft werden.
Die Einbindung von Selbstverpflichtungen der Industrie bereits bei
Auftragsvergabe und Forschungsförderung ist ein präventiver Ansatz. Die Debatte
um "Sustainable Finance" (ESG) erfordert eine klare grüne Position gegen die
Aufweichung von Nachhaltigkeitskriterien für die Rüstungsindustrie.
V. These: Eine Übergewinnsteuer für Rüstungsunternehmen ist ein legitimes
Instrument zur Abschöpfung krisenbedingter Extraprofite und zur Stärkung der
gesellschaftlichen Solidarität.
Die "Zeitenwende" führt zu massiven Umsatz- und Gewinnsteigerungen bei
Rüstungsunternehmen. Eine Übergewinnsteuer zielt darauf ab, solche
krisenbedingten "Extraprofite", die nicht auf üblicher Marktlogik basieren,
abzuschöpfen. Es ist unbillig, wenn Unternehmen von Krisen profitieren, die Leid
verursachen. Die Einnahmen könnten für Krisenprävention, Ukraine-Hilfe oder
Klimaschutz verwendet werden.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich traditionell für Steuergerechtigkeit und eine
stärkere Besteuerung hoher Gewinne ein.
Eine Übergewinnsteuer für Rüstungskonzerne wäre eine Option, um erhöhte
Rüstungsausgaben mit Gerechtigkeitsempfinden und Finanzierungsbedarf für andere
Staatsaufgaben zu verbinden. Die praktische Umsetzung erfordert eine sorgfältige
Konzeption bezüglich Definition von "Übergewinn", Bemessungsgrundlage und
Steuersatz, um negative Effekte zu vermeiden. Sie könnte auch als ökonomisches
Steuerungsinstrument dienen, um Preisgestaltung zu disziplinieren und Effizienz
zu fördern, ohne notwendige Investitionen abzuwürgen.
VI. These: Langfristige grüne Sicherheitspolitik integriert Rüstungsaspekte in
eine umfassende Strategie, die Abrüstung, Rüstungskontrolle und zivile
Krisenprävention priorisiert.
Eine grüne Rüstungsstrategie muss Teil einer umfassenden Sicherheitspolitik
sein, die Abrüstung, Rüstungskontrolle und zivile Krisenprävention weiterhin
priorisiert. Grüne Sicherheitspolitik basiert auf einem erweiterten,
menschenzentrierten Sicherheitsbegriff ("human security"), der über militärische
Aspekte hinausgeht und präventive Friedenspolitik umfasst. Militärische
Verteidigungsfähigkeit darf andere Instrumente nicht verdrängen. Das
langfristige Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt und konventionelle Abrüstung.
Bündnis 90/Die Grünen setzen auf Multilateralismus und die Stärkung von UN und
OSZE. Investitionen in Diplomatie, Mediation und zivile Friedensmissionen müssen
parallel zu Verteidigungsausgaben erhöht werden. Internationale
Rüstungskontrollverträge (NVV, CWÜ, BWÜ) müssen gestärkt werden. Angesichts
neuer Technologien (letale autonome Waffensysteme, Weltraumbewaffnung) sind neue
internationale Abkommen nötig. Die Grünen lehnen letale gänzlich autonome
Waffensysteme ab und fordern ein internationales Verbot.
Die Integration von Rüstung in eine präventive, wertebasierte
Sicherheitsstrategie ist entscheidend.
Begründung
Das Arbeitspapier dient als Grundlage für die Diskussion und die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema Rüstungsstrategie und ist gedacht, z.B. durch weitere Einbindung zuständiger Arbeitsgruppen (z.B. AG Bundeswehr) sowie BAGen (z.B. WiFi), ggf. zu einer Beschlussvorlage weiterentwickelt zu werden.
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